von Gustavo A. Solimeo
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Volker Joseph Jordan M. A.
Teil I: Eine schlecht getarnte Diktatur
Warum fühlen die meisten Menschen sich unwohl, wenn sie über Gleichheit sprechen?
Ist es die Befürchtung, „anders“ zu sein? Die Furcht, verspottet zu werden? Die Angst vor Ablehnung? Politische Korrektheit? Gruppenzwang?
Niemand gibt es zu, aber jeder ist sich einer schlecht getarnten Diktatur der Gleichheit bewusst, die ein Unbehagen bei der bloßen Nennung dieses überaus verhassten „U-Wortes“ erzeugt: Ungleichheit. Eines der Hauptdogmen der modernen politischen Mythologie ist gerade der Gleichheitsmythos, und die Menschen nehmen wahr, dass solche, die diesem Götzen keinen Weihrauch opfern, als ignorante und provinzielle Hinterwäldler, rückständige mittelalterliche Menschen, die dem gesellschaftlichen Fortschritt feindlich gegenüberstünden, oder als Feinde der Demokratie dämonisiert werden.
Die Wurzel dieses Mythos ist ein moralisches Problem, nämlich das Problem, einen Überlegenen akzeptieren und anerkennen zu müssen, dass es Menschen gibt, die intelligenter, begabter, gebildeter, reicher oder Angehörige eines höheren Standes sind …
„Demut ist Wahrheit“, sagt die hl. Theresa von Avila. Diese „Wahrheit“ zu leben bedeutet, dass wir zwar nie unsere Gaben leugnen dürfen, aber Gott dafür danken müssen. Umgekehrt sollten wie nie die Gaben anderer Menschen leugnen, insbesondere, wenn ihre Gaben größer sind als unsere.
Eine in dieser Weise geübte Demut wird zu einer Grundtugend für herzliche soziale Beziehungen und für ein harmonisches Leben in der Gesellschaft.
Es ist schwierig, nach der Erbsünde das rechte Gleichgewicht zu halten, weil wir in einem Zeitalter des Hochmuts leben. Der Egalitarismus hat die Mentalität des modernen Menschen zuinnerst durchdrungen.
Alles läuft auf Gleichheit hinaus
Somit sind wir mit einer Lage konfrontiert, die alles dominiert, verkörpert und umfasst: einer egalitären Revolution. Daher scheint alles in unserer Zeit auf Gleichheit hinauszulaufen.[1]
Wir können sehen, wie diese Gleichheit sich auf vielerlei Weise manifestiert:
1. Die Gleichheit in der Welt um uns her
Verschiedenheit führt leicht zu Niveauunterschieden. Deshalb sind die Unterschiede in Kleidung, Wohnung, Einrichtung, Gewohnheiten und in anderen Bereichen so weit wie möglich zu vermeiden.
• Gleichheit in der Kleidung: Es besteht kein Unterschied zwischen Männern und Frauen, alten und jungen Menschen, Zivilisten und Soldaten, Klerikern und Laien; zwischen Menschen, die in den Tropen und solchen, die in den gemäßigten Klimazonen leben. Die Bewohner Asiens, Afrikas oder Amerikas: Sie alle tragen dieselben Niethosen, Trikothemden und Turnschuhe.
• Gleichheit in der Architektur: Dieselben hässlichen Wolkenkratzer oder kastenförmigen Gebäude lassen New York, São Paulo, Algier oder Manila gleich aussehen.
• Gleichheit in der Musik und im Liedgut: Dasselbe Geheul, dasselbe Getrommel, dieselbe Kakophonie und dieselben Dissonanzen bringen Amerikaner, Italiener, Malaysier, Japaner und Afrikaner durcheinander.
• Gleichheit in der Ernährung: Schnellimbiss-Ketten standardisieren die Essgewohnheiten, was zur Ausrottung der traditionellen regionalen Küche führt.
2. Gleichheit zwischen den Geschlechtern
Ein egalitärer Mensch hasst alle Ungleichheiten, darunter auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder in der Familie:
• Es gibt keine Anerkennung einer sozialen, politischen, wirtschaftlichen oder ähnlichen Unterscheidung zwischen Männern und Frauen.
• Die Gleichheit der Rollen und der Verhaltensweisen zwischen Ehemann und Ehefrau, Eltern und Kindern wird propagiert.
3. Gleichheit zwischen Menschen unterschiedlichen Standes, unterschiedlicher Stellung und unterschiedlichen Alters
Die Logik des Egalitarismus verwirft Unterschiede zwischen Lehrern und Schülern, Arbeitgebern und Angestellten, alten und jungen Menschen:
• Jeder wird mit seinem Vornamen oder Spitznamen angesprochen.
• Jeder wird, ungeachtet seiner Verdienste, in der gleichen Weise behandelt.
4. Gleichheit in der Gesellschaftsstruktur
Der Egalitarismus in den persönlichen Beziehungen führt zum sozialen Egalitarismus:
• Er strebt die Unterdrückung der Klassen an, vor allem derer, die erblich weitergegeben werden, und die Beseitigung jeden aristokratischen Einflusses auf die Führung, Kultur und Sitten der Gesellschaft. Sogar der naturgegebene Vorrang der geistigen über die körperliche Arbeit wird beseitigt.
5. Gleichheit im politischen Bereich
Die Lehre von der Gleichheit des Menschen lässt sich vom sozialen auf den politischen Bereich übertragen:
• Kein Unterschied zwischen Regierenden und Regierten (es gibt keine „Untertanen“): Abschaffung oder zumindest Verminderung der Ungleichheit zwischen Regierenden und Regierten. Die Gewalt geht nicht von Gott, sondern von der Masse aus.
• Folglich sind Monarchie und Aristokratie als wesenhaft böse Regime zu verdammen, weil sie anti-egalitär sind. Nur die „Demokratie“ sei legitim, gerecht und „evangelisch“ (d. h. den Lehren des Evangeliums entsprechend).
6. Gleichheit im wirtschaftlichen Bereich
Ökonomische Ungleichheit führt zwangsläufig zu sozialer und politischer Ungleichheit. Daher:
• Kein Privateigentum: Niemand sollte etwas besitzen; alles sollte der Gemeinschaft gehören (Kommunismus/Sozialismus).
• Kein Recht auf freie Berufswahl: Wenn jeder seinen Beruf frei wählen kann, werden Ungleichheiten geschaffen werden, da es immer solche geben wird, die fähiger, dynamischer oder ehrgeiziger sind. Daher wird in einer idealen egalitären Gesellschaft der persönliche Beruf vom Staat vorgeschrieben.
7. Gleichheit im kirchlichen Bereich
Der Egalitarismus zielt auch auf die Abschaffung aller Unterschiede in der Kirche ab:
• Er geht davon aus, dass es keine Priester über den Gläubigen geben soll: Egalitäre Menschen wollen die Abschaffung eines Priestertums mit seiner durch die Weihe verliehenen Gewalt, seinem Lehrauftrag und seiner leitenden Funktion, oder zumindest eines Priestertums mit hierarchischen Strukturen.
• Folglich behaupten sie, dass es keinen Unterschied zwischen dem Zelebranten und der „Versammlung“ oder „Gemeinde“ gebe. Jeder „konzelebriere“.
8. Gleichheit unter allen Religionen
Ein egalitärer Mensch zittert bei der bloßen Vorstellung, dass es eine wahre Religion gebe, vor Wut:
• Für ihn läuft der Anspruch, dass nur eine Religion die wahre sei (die katholische Kirche), unter Ausschluss aller anderen, auf die Behauptung von Überlegenheit hinaus, da sie der „grundsätzlichen Gleichheit der Menschen“ widerspreche.
• Ebenso stellen säkulare Staaten in der modernen Welt alle Religionen im Namen des „Gleichheitsdogmas“ einander gleich.
9. Gleichheit der Seelen
Diese wahre kulturpsychologische Kriegführung gipfelt im völligen Ersticken aller legitimen Unterschiede, der völligen Standardisierung und Vermassung:
• Massenvermarktung und die Medien vereinheitlichen alle Seelen, indem sie diese ihrer Eigenarten und ihres Eigenlebens berauben. Infolgedessen verschwindet das Volk (d. h. jene große Familie aus verschiedenen, aber harmonisch zusammenwirkenden Seelen, die sich um das ihnen Gemeinsame herum scharen). An seine Stelle tritt die Masse mit ihrer großen leeren, versklavten Kollektivseele.
10. Gleichheit zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen
Seiner Persönlichkeit entblößt, wird der Mensch zu einem unter vielen Lebewesen reduziert und hat nicht mehr Rechte als sie:
• Die egalitäre Umweltschutzbewegung trachtet danach, sogar die Unterschiede zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen zugunsten einer egalitären Berücksichtigung der „Würde aller Lebewesen“ zu aufzuheben.
11. Gleichheit zwischen Mensch und Gott
Die letzte und absurdeste Form des Egalitarismus, der Frucht des menschlichen Hochmuts, ist der Versuch, die unendliche Ungleichheit zwischen Gott und Mensch, d. h. zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf, abzuschaffen:
• Pantheismus, Immanentismus und andere esoterische Formen der Religion vergöttlichen den Menschen (z. B. die New-Age-Bewegung).
• Atheismus: Andere verfallen, um die Absurdität der Behauptung zu vermeiden, dass der Mensch Gott sei, in eine andere Absurdität, indem sie behaupten, dass es Gott nicht gebe. Im Grunde ist ein Atheist ein äußerst egalitärer Mensch.
Die egalitäre Revolution
Der Egalitarismus ist kein spontanes Phänomen, sondern das Ergebnis eines langen Prozesses. Er ist die Frucht einer egalitären Revolution.[2]
Sowohl die Neuere Geschichte als auch die Zeitgeschichte sind von den Bemühungen derer geprägt worden, die alle Ungleichheiten ausrotten und dem Volk eine egalitäre Gesellschaft, eine egalitäre Kultur und eine egalitäre Religion – mit einem Wort, eine egalitäre Weltanschauung (eine umfassende Schau der Welt und des menschlichen Lebens) – aufzwängen wollen.
Der Ursprung dieser egalitären Revolution war eine Explosion des Hochmuts und der Sinnlichkeit am Ende des Mittelalters.[3] Seither hat diese egalitäre Bewegung an Schwung und Radikalität zugenommen.
Egalitarismus: Metaphysik und Religion der modernen Welt
„Zwei als metaphysische Werte angesehene Begriffe bringen deutlich den Geist der Revolution zum Ausdruck: absolute Gleichheit, völlige Freiheit.“[4]
Der Hochmut führt zu einer egalitären Auffassung von der Welt und dem menschlichen Leben. Er führt zu einer egalitären Metaphysik. Diese egalitäre Metaphysik verleitet zu dem moralischen Irrtum, der Gleichheit und Gerechtigkeit gleichsetzt. Sie ist der Ansicht, dass Gott selbst eine völlige Gleichheit zwischen den Menschen geschaffen habe. Diese Sichtweise ist in der modernen Welt allgemein vorherrschend.
Folglich ist der Egalitarismus zur wahren Metaphysik und uneingestandenen Religion der modernen Welt geworden.
Teil II: Die katholische Perspektive
Ein ungleiches und hierarchisches Universum
Diese egalitäre Weltvorstellung ist völlig falsch.
Die Heilige Schrift, das Magisterium der Kirche, die gesunde Philosophie und die Lehre der Kirchenlehrer bringen allesamt klar zum Ausdruck, dass proportionale Ungleichheiten an sich gut sind und dass Gott ein ungleiches und hierarchisches Universum erschuf. Das ganze Universum ist eine Symphonie aus Ungleichheiten, in dem jedes Wesen eine andere Note repräsentiert und die ganze Seinsordnung Harmonie hervorbringt.
Tatsächlich ist das Universum eine riesige Hierarchie mit Geschöpfen, die von den Mineralien aus reiner Materie bis hin zu den Engeln, reinen Geistwesen, reichen; Pflanzen, Tiere und die Menschen sind dazwischen angesiedelt.
Nicht nur sind die mehreren Reiche der Schöpfung ungleich, sondern auch in jedem Reich selbst besteht eine große und proportionale Ungleichheit.
Selbst in der unbelebten Welt, in der weniger Unterschiede zwischen ihren Gliedern bestehen, ist die Ungleichheit nichtsdestotrotz stark akzentuiert.
So hat beispielsweise in der Welt der Chemie jedes Element seine charakteristischen Eigenschaften. Es gibt sogar Edelgase, die so genannt werden, weil sie sich nicht mit anderen Gasen vermischen. Es gibt auch Edelmetalle, die so heißen, weil sie widerstandsfähiger als die anderen Metalle sind.
Im Makrokosmos der Sterne und Galaxien besteht ebenfalls eine große, aber harmonische Ungleichheit. Jedes Sonnensystem weist Satelliten auf, die Planeten umkreisen, die wiederum eine Umlaufbahn um Sterne beschreiben. Keine zwei Sterne sind miteinander identisch, wie der hl. Apostel Paulus schreibt: „Stella enim a stella differt in claritate“ – „Denn ein Stern ist vom anderen verschieden an Glanz“ (1. Kor 15,41).
Im Pflanzenreich nimmt die Ungleichheit zwischen den Gliedern im Wert zu, weil das Leben eine größere Vielfalt und somit eine größere Ungleichheit mit sich bringt als jene, die zwischen Mineralien als unbelebter Materie besteht.
Die Ungleichheit unter den Tieren ist aufgrund ihrer Bewegungsfähigkeit sogar noch größer.
Dennoch unterscheiden sich die Menschen, da sie eine Geistseele, einen Verstand und einen freien Willen haben, noch mehr voneinander.
An der Spitze der Schöpfung stehen die Engel als reine Geistwesen, die mit einem klügeren Verstand und einem stärkeren Willen begabt sind. Da sie die vollkommensten aller Geschöpfe sind, ist die Ungleichheit unter ihnen größer als in jedem anderen Reich des Universums. Der hl. Thomas von Aquin (1225–1274) lehrt im Anschluss an die Heilige Schrift, die Kirchenväter sowie andere kirchliche Schriftsteller, dass die Engel in drei Ordnungen oder Hierarchien (Triaden) gegliedert sind; jede von ihnen untergliedert sich wiederum in drei Chöre:
Erste Triade: Seraphim, Cherubim und Throne
Zweite Triade: Herrschaften, Mächte und Gewalten
Dritte Triade: Fürstentümer, Erzengel und Engel.
Folglich gibt es neun Chöre der Engel, die nach einer hierarchischen Weisheit angeordnet sind. Innerhalb jedes Chores ist die Ungleichheit so immens, dass es keine zwei Engel von derselben Art gibt. Jeder Engel ist der einzige seiner Art.[5]
Fünf Gründe, warum Gott alle Dinge mit Ungleichheit erschaffen hat
Hätte Gott eine Welt ohne Ungleichheit erschaffen können?
Nein. Die Ungleichheit ist nicht das Ergebnis einer launenhaften Entscheidung oder eines willkürlichen Antriebes, die in Gott undenkbar sind.
Wie der hl. Thomas darlegt, gibt es zutiefst weise Ursachen, warum Gott alles mit Ungleichheit erschuf. Hier werden wir seiner Grundargumentation folgen.[6]
1. Das Universum ist ein Spiegelbild seines Schöpfers
Jeder Handwerker muss ein Modell vor sich haben [eine exemplarische Ursache]. Dieses kann von außen kommen (z. B. eine Person, ein Gegenstand oder eine Landschaft) oder innerlich im Geist entworfen werden (z. B. eine Kombination von Farben, Formen, Geräuschen usw.).
Vor der Schöpfung war nichts da. Daher hatte Gott kein Modell, aus welchem er sich für das Schöpfungswerk inspirieren konnte. Der göttliche Schöpfer musste also notwendigerweise sich selbst zum Modell nehmen.
Angesichts des allgemeinen Prinzips, nach dem die Wirkung ihrer Ursache ähnelt und, näherhin, ein Werk seinem Urheber ähnelt, müssen wir folgern, dass die Schöpfung dem Schöpfer ähnelt.
Da Gott jedoch unendlich ist, wäre kein geschaffenes Wesen, wie vortrefflich es auch sein mag, imstande, von sich aus die unendlichen Vollkommenheiten Gottes widerzuspiegeln, denn kein Geschöpf kann eine vollkommene Gottesähnlichkeit besitzen, immer nur eine partielle.
Daher mussten viele Geschöpfe ins Dasein gerufen werden, und nicht nur viele, sondern notwendigerweise auch ungleiche. Je mehr Arten also geschaffen sind, desto größer wird die Widerspiegelung, die wir von der Vollkommenheit Gottes besitzen, sein.
Folglich ist die Ungleichheit in der Schöpfung notwendig, damit das Universum ein Spiegelbild seines Schöpfers sein kann.2. Die Vollkommenheit des Universums erfordert unterschiedliche Stufen der Vollkommenheit
Der „Doctor angelicus“ lehrt auch, dass die göttliche Weisheit eine Unterschiedenheit der Dinge angelegt habe, um die Vollkommenheit im Universum zu vermehren, so dass jedes Wesen einen Grad oder Aspekt der göttlichen Vollkommenheit widerspiegelt.
Aus diesem Grunde sind die Geschöpfe nach Stufen geordnet: in der hierarchischen Schöpfungsleiter gibt es keine plötzlichen oder unverhältnismäßigen Ungleichheiten. Denn Gott hat „alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ („Omnia in mensura et numero et pondere disposuit“ – Weisheit 11,21). Ungleichheiten kommen immer in kleinen Stufen vor. Ungleichheit wächst, wenn Wesen vollkommener werden. Je vollkommener das Wesen, desto größer die Ungleichheit. Je weniger vollkommen das Wesen, desto kleiner die Ungleichheit.
Folglich sind zusammengesetzte Körper vollkommener als einfache Elemente; Pflanzen sind vollkommener als Gesteine; Tiere sind vollkommener als Pflanzen, und Menschen sind vollkommener als andere Tiere. Die Engel als reine Geistwesen sind vollkommener als die Menschen. Und innerhalb jeder dieser Gattungen sind manche Arten vollkommener als andere.
Daher ist die Ungleichheit ein Gut, weil das Universum nicht vollkommen wäre, wenn es nur eine Stufe der Vollkommenheit widerspiegelte.
3. Die Vielfalt in der Schöpfung offenbart die Macht des Schöpfers
Ein Künstler ist so groß wie seine kreative Kraft. So offenbart beispielsweise das Meißeln von zwanzig Statuen von Julius Cäsar in derselben Position weniger kreative Kraft als das Meißeln von zwanzig Statuen von Julius Cäsar in unterschiedlichen Positionen. Eine noch größerer Kreativität würde ein Künstler zeigen, wenn er zwanzig Statuen von ganz verschiedenen Menschen meißelte.
Daher verhält es sich so, dass, je größer die Ungleichheit in geschaffenen Werken ist, sie um so mehr die schöpferische Kraft ihres Urhebers offenbaren.
Folglich ist die Ungleichheit in der Schöpfung notwendig, um die Macht des Schöpfers kundzutun. Und je vollkommener die Schöpfung, desto mehr offenbart sich die Macht Gottes durch die Erschaffung unterschiedener Wesen.
4. Die Ordnung des Universums spiegelt die Weisheit Gottes wider
Der hl. Thomas hebt hervor, dass jedes vernunftbegabte Wesen ordentlich handelt. Gott nun ist unendlich vernunftbegabt. Daher tut Gott alles mit einer immensen Ordentlichkeit. Deshalb sagt der Apostel in Bezug auf die Obrigkeit: „Die seienden Dinge sind von Gott verordnet“ („Quae autem sunt, a Deo ordinatae sunt“ – Röm 13,1).
Wenn Gott alles mit Ordnung schuf, dann schuf er alles mit Ungleichheit, weil nur ungleiche Dinge geordnet werden können (man kann keine am selben Tag geprägten 15 Cent-Münzen ordnen).
Die Stufe der Ordnung spiegelt die Stufe der ordnenden Vernunft wieder. (So ordnet ein nicht besonders intelligenter Mensch Bücher auf einem Regal nach ihrer Größe und Farbe an, wohingegen einer mit einer normalen Intelligenz sie nach Thema oder Verfasser usw. ordnet.)
Die Ordnung des Universums ist ein Bild der unendlichen Vernunftbegabtheit Gottes, d. h. seiner unendlichen Weisheit.
Daher ist die Ungleichheit ein Gut, weil sie durch die Ordnung das Universum die Weisheit Gottes widerspiegeln lässt.
5. Die Harmonie des Universums erfordert eine proportionale Ungleichheit
Gott richtete eine Schöpfung ein, die ein Kosmos ist (d. h., ein „ordentliches oder harmonisches System“), und nicht ein Chaos (in der griechischen Mythologie „der anfängliche, formlose Zustand des Universums“). Aus diesem Grunde legte er fest, dass all seine verschiedenen Teile untereinander geordnet und einander nicht fremd sind oder in einer heterogenen Beziehung zueinander stehen. Sie bilden ein Ganzes, in welchem Harmonie besteht.
Wenn Gott absolut gleiche Wesen geschaffen hätte, dann könnten sie nicht geordnet sein, und so gäbe es keine Harmonie im Universum.
Die Unterscheidung unter den geschaffenen Wesen hat dieselbe Wirkung wie harmonische Kombinationen von Bass und Sopran, Stille und Klängen in der Musik oder Schatten und Farben auf einem Gemälde.
Die Schönheit des Regenbogens ist nur durch die harmonische Ungleichheit seiner Farben möglich; und diese Harmonie macht den Regenbogen als Ganzen schöner als in jeder Farbe für sich gesehen. Ebenso macht die proportionale Ungleichheit unter Musiknoten erst Musik aus und verleiht ihr ihre Schönheit.
Dies trifft auf alle Wesen zu, von formlosen Klängen bis hin zu den kompliziertesten Organismen, darunter auch dem Menschen, und bis hinauf zur Engelwelt.
Der hl. Thomas legt dar, dass Gott, als er alles gemacht hatte, sagte, dass es gut war; als er aber auf die Gesamtheit des Geschaffenen blickte, sagte er, dass es „sehr gut“, d. h. ausgezeichnet, war (Gen 1,31).
Die Harmonie des Ganzen verleiht dem Universum eine Güte und Schönheit, die derjenigen jedes einzelnen Wesens überlegen ist. Der Kontrast und die Abstufung unter den Wesen befähigen uns dazu, uns ein genaueres Bild von den Vollkommenheiten Gottes zu machen.
Daher ist die Ungleichheit in der Schöpfung ein Gut, weil sie die Harmonie im Universum möglich macht.
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Gott, exemplarische Ursache des Universums
Die Vielfältigkeit und Hierarchie alles Geschaffenen offenbart die wunderbare Ordnung des Universums und spiegelt die unendliche Schönheit des göttlichen Schöpfers wieder.
„Gott, das ungeschaffene und unendlich schöne Wesen, spiegelt sich auf tausend Weisen in allen anderen Wesen, die er erschuf, wider. Dementsprechend gibt es nicht einmal ein Wesen, welches nicht in der einen oder anderen Weise die ungeschaffene Schönheit Gottes widerspiegelt. Doch die Schönheit Gottes offenbart sich vor allem in der harmonischen und hierarchischen Gesamtheit all dieser Dinge, so dass es in gewissem Sinne keine bessere Möglichkeit gibt, die unendliche und ungeschaffene Schönheit Gottes zu erkennen, als die Analyse der endlichen und geschaffenen Schönheit des Universums, nicht so sehr in jedem einzelnen Wesen, sondern in der Gesamtheit aller Wesen betrachtet.“[7]
Plinio Corrêa de Oliveira
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Gleichheit und Ungleichheit unter den Menschen
1. Der Mensch: Eine Zusammenfassung der Schöpfung, ein wahrer „Mikrokosmos“ (eine kleine Welt für sich)
Aus der Beobachtung, dass Ungleichheit in allen Bereichen der Schöpfung existiert, leiten wir ab, dass sie auch unter den Menschen existieren muss. Es wäre gegen die Ästhetik des Universums und gegen die Weisheit Gottes, wenn dieses universale Gesetz nicht auch für die Menschheit gelten würde. Dies ist um so zutreffender, wenn man bedenkt, dass der Mensch eine Synthese der ganzen Schöpfung ist. Papst Pius XI. schreibt über ihn: „Er ist ein wahrer ‚Mikrokosmos‘, wie die Alten sagten, eine kleine Welt für sich, die an Wert die ungeheure unbelebte Welt weit übertrifft.“[8]
Tatsächlich hat der Mensch an allen drei Reichen der materiellen Schöpfung Anteil: vom unbelebten Mineralienreich zum Pflanzenreich (die Pflanze ist lebendig, aber nicht empfindungsfähig), bis hin zum Tierreich (das Tier hat Bewusstsein, aber keine Vernunft). Weit mehr, denn er ist auch mit der Fähigkeit zum Denken oder der Vernunft und mit einem freien Willen begabt. Mit anderen Worten, er hat eine geistliche Seele. Daher nimmt er an der Welt der immateriellen oder geistlichen Schöpfung teil.
Wie könnte, da der Mensch eindeutig ein „wahrer Mikrokosmos“ ist, der in sich selbst die ganze materielle wie immaterielle Schöpfung synthetisiert, dann Ungleichheit in allen Reichen der Schöpfung und nicht unter den Menschen existieren?
2. Ungleichheit existiert auch unter den Menschen
Die Menschen sind tatsächlich von ihren Zehenspitzen bis hin zu ihren Seelen verschieden.
Jedes Individuum hat einmalige Fingerabdrücke, die sich nicht mit der Zeit verändern. Sogar eineiige Zwillinge (mit derselben DNA) haben keine identischen Fingerabdrücke. Wissenschaftler schätzen, dass die Wahrscheinlichkeit von zwei Individuen mit demselben Fingerabdruck bei 1 zu 64 Milliarden liegt.[9]
Die Unterschiede in der Intelligenz, im Temperament, in den Begabungen, der Mentalität und so weiter sind sogar noch größer als physische Ungleichheiten.
Der hl. Thomas legt dar, dass diese Unterschiedenheit in den Eigenschaften ein vollkommeneres Bild von Gott vermittelt. Als Gesamtheit, viel mehr als individuell betrachtet, bilden die Menschen ein schönes Mosaik, welches die Vollkommenheiten ihres Schöpfers widerspiegelt.
3. Essentielle Gleichheit − akzidentielle Ungleichheit
Die Tatsache, dass Ungleichheit existiert, bedeutet jedoch nicht, dass die Ungleichheit unter den Menschen eine absolute sein sollte.
a. Essentielle Gleichheit
Trotz all dieser Ungleichheiten besteht eine fundamentale Gleichheit unter den Menschen: Sie „besteht nach der Lehre des Evangeliums … darin, dass alle dieselbe Natur empfangen haben, dass alle zu derselben hocherhabenen Würde der Kinder Gottes berufen sind, dass ein und dasselbe Ziel allen bestimmt ist, und alle nach demselben Gesetze gerichtet werden, um Lohn oder Strafe nach Verdienst zu empfangen.“[10]
Folglich sind die Menschen fundamental gleich, weil sie denselben Ursprung, dieselbe Natur und dasselbe Ziel haben.
i. Gleichheit des Ursprungs: Alle Menschen wurden von demselben Gott nach seinem Bilde und Gleichnis erschaffen.
ii. Gleichheit der Natur: Alle Menschen haben dieselbe Natur, einen körperlichen und sterblichen Leib und eine geistliche und unsterbliche Seele, die von Unserem Herrn Jesus Christus erlöst worden sind.
iii. Gleichheit der Bestimmung: Alle sind gleichermaßen dem Tode unterworfen; alle sind berufen, den Himmel zu verdienen, ebenso wie alle sich vor der Hölle fürchten müssen.
b. Akzidentielle Ungleichheit
Neben dieser essentiellen Gleichheit bestehen jedoch akzidentielle Ungleichheiten, d. h. solche, die von Akzidentien herrühren.
Was sind „Akzidentien?“
Vereinfachend können wir sagen, dass Akzidentien Eigenschaften in einer Sache sind, die für die wesenhafte Identität jener Sache nicht notwendig sind. Ein Akzidens ist etwas, was zu einer Sache „hinzukommt“, aber nicht zu ihrem Wesen gehört. In diesem Sinne steht die Akzidens im Gegensatz zur Substanz: Die Substanz ist absolut und notwendig, damit eine Sache sein kann, was sie ist, wohingegen ein Akzidens relativ und kontingent ist.
Nehmen wir beispielsweise die Haarfarbe: Haar bleibt Haar, ungeachtet dessen, ob es rot, schwarz, blond oder weiß ist. Die Form eines Steines: Ein Stein wird immer ein Stein sein, ungeachtet dessen, ob er rund oder quadratisch, glatt oder spitz ist (ein Rohdiamant ist genauso sehr ein Diamant wie ein geschliffener Diamant). Die Wassertemperatur: Wasser wird Wasser sein, ungeachtet dessen, ob es heiß, kalt oder in festem, flüssigem oder gasförmigem Aggregatzustand ist (Eis und Wasserdampf sind immer noch Wasser).
Ein Stuhl kann aus Holz, Metall oder Kunststoff angefertigt sein. Das für die Herstellung eines Stuhles verwendete Material tritt akzidentiell zu seinem „Stuhlsein“ hinzu.
Alle Menschen wurden von Gott in seinem Bilde und Gleichnis erschaffen, doch soll jeder eine (oder mehr) der göttlichen Vollkommenheiten auf besondere Weise widerspiegeln. Folglich leistet jeder Mensch einen Beitrag dazu, dass ein vollkommeneres Bild von Gott entsteht. In diesem Sinne ist jeder Mensch einzigartig, und das Bild Gottes wäre weniger vollkommen, wenn er nicht existierte. Daher besitzt jeder einen besonderen Wert und eine besondere Würde, selbst wenn er der letzte Mensch in der gesellschaftlichen Rangordnung ist.
Aufgrund dessen, dass alle Menschen dieselbe Natur gemeinsam haben, wird diese spezielle Widerspiegelung des göttlichen Bildes durch die Akzidentien ermöglicht.
4. Gleiche natürliche Rechte – ungleiche akzidentielle Rechte
Die gleiche Natur des Menschen erwirkt gleiche natürliche Rechte für alle.
Ihre Ungleichheit in gewissen Akzidentien erzeugt ungleiche akzidentielle Rechte.
Mit anderen Worten: die Rechte, die von der einfachen Tatsache herrühren, dass wir Menschen sind, machen sie für alle gleich. Hierzu gehören: Das Recht auf Leben, Ehre, ausreichende Lebensbedingungen; das Recht zu arbeiten, Privateigentum zu besitzen, eine Familie zu haben und insbesondere die wahre Religion zu kennen und zu praktizieren. Ungleichheiten, die diese Rechte verletzen, stehen der Ordnung der Vorsehung entgegen.
Ungleichheiten jedoch, die sich aus Akzidentien wie der Tugend, der Begabung, der Familie, der Tradition usw. ergeben, sind gerecht und entsprechen der Ordnung des Universums.[11]
Offensichtlich erzeugen nicht alle Akzidentien Rechte.
Manche Akzidentien sind sozusagen „unwesentlich“ und konstituieren keine Rechte. Andere Akzidentien dagegen sind wichtiger und werden folglich zu einer Rechtsquelle.
Die Faktoren, ob ein Mensch klein oder groß, dick oder dünn, blond oder dunkelhaarig ist, sind lediglich Akzidentien, die ihm nichts Wesentliches hinzufügen. Sie stellen für ihn also keine Rechtsquelle dar.
Dagegen ist es auch ein Akzidens, wenn man Vater, das Oberhaupt einer Familie, ist. Niemand kann aber bestreiten, dass ein solches Akzidens (Vaterschaft) einem Mann Rechte sowohl über seine Kinder als auch gegenüber der Gesellschaft verleiht, welche unverheiratete Menschen nicht besitzen (z. B. Steuerbefreiungen oder Steuervergünstigungen in einigen Ländern). Die Vaterschaft fügt dem Stand eines Menschen etwas hinzu, was ihm insofern größeren Respekt und größere Rücksicht verschafft, als er durch die Zeugung neuen Lebens gleichsam ein „Partner“ im Schöpfungswerk Gottes geworden ist. Außerdem hat die elterliche Autorität an der göttlichen Autorität Anteil. Daher verleiht die Akzidens „Vaterschaft“ Eltern das Recht auf den Gehorsam ihrer Kinder und auf den Respekt der Gesellschaft.
Ebenso haben Regierungsbeamte (ganz gleich, in welcher Regierungsform, ob Monarchie, Aristokratie oder Demokratie) sowie Lehrer, Arbeitgeber und all jene, die eine gesetzlich begründete Autorität besitzen, Anteil an der göttlichen Autorität und sind daher berechtigt, Gehorsam einzufordern und entsprechend ihrem Stande geehrt zu werden.
5. Ähnlichkeit, nicht Gleichheit
Infolge der Gleichheit der Natur und der Ungleichheit der Akzidentien sind Menschen ähnlich, nicht gleich. Eigentlich sagen wir, wenn zwei Dinge dieselbe Natur besitzen, aber unterschiedliche Akzidentien haben, dass sie ähnlich, nicht gleich sind. So werden beispielsweise in der Geometrie Figuren, welche dieselbe Form (Natur), aber nicht unbedingt dieselbe Größe (ein Akzidens) aufweisen, ähnliche Figuren genannt.
Gleichheit und Ungleichheit in der Gesellschaft
1. Die menschliche Gesellschaft als Ganze ein Bild Gottes
Akzidentielle Ungleichheiten unter den Individuen lassen Ungleichheiten in den gesellschaftlichen Verhältnissen entstehen.
Tatsächlich erfordert das gesellschaftliche Leben die Existenz einer großen Vielfalt mit äußerst vielgestaltigen Funktionen, was wiederum eine Vielfalt der natürlichen Begabungen, Fertigkeiten oder Fähigkeiten voraussetzt. Die Vielfalt der Umstände ist der Hauptgrund, warum Menschen unterschiedliche Funktionen wahrnehmen und ihre jeweiligen Fähigkeiten einsetzen. Daher ist es für Menschen mit einem höheren gesellschaftlichen Rang normal, die wichtigeren Themen anzugehen, auf die sie besser eingestellt sind, für jene in den niederen Ständen hingegen, sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihnen näher stehen.
Nicht jeder kann ein Adliger sein, denn wer würde sonst die Felder bestellen? Wer würde die Gesellschaft verteidigen, wenn alle Bauern wären? Wer würde sich um den Handel kümmern, wenn alle im Militär wären? Und so weiter.
Der Lehre der Kirche zufolge muss die christliche Gesellschaft von verhältnismäßig ungleichen Ständen gebildet werden, die ihr eigenes Wohl und das Gemeinwohl durch harmonische Zusammenarbeit verwirklichen. Somit sollte nicht nur jeder Mensch einzeln betrachtet, sondern auch die Gesellschaft als Ganze ein Bild Gottes sein.
Übrigens ist dies eine weitere unheilvolle Konsequenz der Abtreibung: Durch sie werden Millionen von Menschen im Mutterleib umgebracht, die ansonsten, mit ihren einzigartigen Eigenschaften, zum Aufbau eines vollkommeneren Bildes des Schöpfers beitragen würden. Dies macht Abtreibung zu einer Sünde auch gegen das Erste Gebot, nicht nur gegen das Fünfte.
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„Maria ist das vortreffliche Meisterstück des Allerhöchsten.“
Hl. Louis-Marie Grignion de Montfort
Bemerkungen von Prof. Plinio Corrêa de Oliveira[12] zu diesen Worten des hl. Louis-Marie Grignion de Montfort:
„Hier ist eine Wahrheit, die nur bei wenigen in ihren Seelen eingeprägt ist.“
„Wenn wir einen sternklaren Nachthimmel betrachten, beschränken wir dann unsere Erwägungen, so lobenswert sie auch sein mögen, auf die großartigen Schöpfungen Gottes, oder betrachten wir auch die allerseligste Jungfrau Maria, die unvergleichlich größer und schöner ist als jeder Stern und als alle Sterne zusammen?“
„Da die allerseligste Jungfrau Maria das Meisterstück der Schöpfung war, ist alle Schönheit, Größe und Vortrefflichkeit, die Gott in den Himmel hineinlegte, winzig im Verhältnis zu jener, die der Schöpfer in sie hineinlegte.“
„Der sichtbare Himmel, den wir kennen, ist nur ein Bild, ein Abbild der Größe Unserer Lieben Frau. Trotz der Tatsache, dass sie bloß ein Geschöpf ist, übertrifft alles in ihr all jene geschaffenen Schönheiten an Vollkommenheit.“
Plinio Corrêa de Oliveira
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2. Talente und Ungleichheiten in Gottes Plan für die Gesellschaft
Ungleichheiten sind im Einklang mit dem Plan Gottes für die Gesellschaft. Er erschuf die Menschen als soziale Wesen und legte fest, dass sie voneinander erhalten, was sie benötigen, sei es materieller oder geistlicher Natur. Ebenso bestimmte er, dass solche, die mit besonderen Talenten begabt sind, diese mit bedürftigen Menschen teilen sollen.
Tatsächlich ist der Mensch bei seiner Geburt nicht mit allem ausgestattet, was er braucht, um sein natürliches und geistliches Leben zu erhalten und zu entwickeln. Außerdem stehen ihm, da er begrenzt ist, nicht alle zur vollen Entfaltung seiner Persönlichkeit notwendigen Ressourcen zur Verfügung. Talente sind nicht gleich verteilt: Es gibt Unterschiede im Alter, in der körperlichen Leistungsfähigkeit, in der geistigen oder moralischen Begabung sowie Unterschiede in der Verteilung des Reichtums. Durch das Leben in der Gesellschaft profitieren einige in einem gegenseitigen Bereicherungsprozess von den Talenten anderer.
Überdies ermutigen diese Verschiedenheiten Menschen und verpflichten sie mitunter sogar zur Übung der Großzügigkeit, Freundlichkeit und anderer Tugenden.
Einmal mehr sehen wir eine weitere unheilvolle Auswirkung der Abtreibung: Sie entzieht der Gesellschaft Millionen von Menschen mit einzigartigen Talenten, die nach Gottes Plan dazu berufen gewesen wären, zum Allgemeinwohl und zum Glück anderer Individuen beizutragen.
Der Irrtum des Egalitarismus
Die revolutionäre (liberale oder sozialistische) „Lösung“ für übertriebene und unverhältnismäßige Ungleichheit ist die Herstellung völliger Gleichheit durch die Abschaffung der Gesellschaftsstufen.
Gleichheit: der kleinste gemeinsame Nenner
Ganz offensichtlich kann völlige Gleichheit nur durch die Senkung des Niveaus oder die Erzwingung des kleinsten gemeinsamen Nenners erreicht werden. Sie gleicht Dinge immer durch einen Niedergang, nie durch einen Aufstieg einander an. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Aufwärtsbewegungen mehr Anstrengungen, mehr Talent, mehr Fähigkeiten, mehr Dynamik oder gar mehr Ehrgeiz erfordern. Umgekehrt kann eine Abwärtsbewegung durch den bloßen Effekt der Schwerkraft erzielt werden, ohne dass eine größere Anstrengung erforderlich wäre, als sich gehen zu lassen.
Die Erfahrung lehrt, dass wenn viele Menschen sozial aufsteigen, nicht alle die Spitze erreichen. Viele halten bei verschiedenen Stufen des Prozesses an. Diese Aufwärtsbewegung bewirkt also Ungleichheiten. Diese Ungleichheiten sind dem gesellschaftlichen Fortschritt alles andere als abträglich, sondern vielmehr sehr fruchtbar: Wenn jeder aufsteigt, sei es auch in unterschiedlichem Grade, steigt die ganze Gesellschaft auf. Tatsächlich sehen, wenn es eine Gesellschaftsstufe mit einer Reihe von graduellen und proportionalen Abstufungen gibt, jene, die auf den niedrigeren Stufen stehen, eine Möglichkeit, über aufeinander folgende Zwischenstufen zu einer höheren Position aufzusteigen. Folglich erlaubt nur soziale Ungleichheit sozialen Fortschritt: Je mehr Stufen es auf einer Gesellschaftsstufe gibt, desto leichter ist es, auf ihr voranzukommen und in der Gesellschaft aufzusteigen.
Die mittelalterliche christliche Zivilisation, welche die von Gott gewollten Ungleichheiten respektierte, schuf eine hierarchische Gesellschaft mit graduellen und proportionalen Ungleichheiten, wodurch sie die Mobilität und den Aufstieg zu sozialem Fortschritt erleichterte.
Die moderne Zivilisation verwirft, insofern als sie das Ideal der völligen Gleichheit propagiert, die Verbesserung der Individuen, weil sie diese gleich macht.
Was soll diese Gleichheit aber sein? Sie ist eine rein arithmetische Gleichheit, die zu radikalem, absolutem und uneingeschränktem Individualismus führt; einem Individualismus nämlich, in dem nur die Zahlen einen Wert haben und Qualität nicht beachtet wird. Wir werden zu bloßen Zahlen in der Statistik oder zu Nummern, wie es bei unseren Sozialversicherungsnummern der Fall ist.
Wenn dies geschieht, vernichtet der Staat die Person. Somit führt der Egalitarismus zu einer totalen staatlichen Kontrolle des Individuums und einer völligen Zerstörung der Gesellschaft.
Zusammenfassung: Ungleichheit, ein Naturgesetz
1. Ungleichheit, ein Naturgesetz: Ungleichheit ist ein Naturgesetz. Gott erschuf alles mit Ungleichheit. In allen Bereichen der Schöpfung gibt es Ungleichheit.
2. Die Ungleichheit wächst mit der Vollkommenheit des Wesens: Je vollkommener ein Wesen ist, desto größer ist die Ungleichheit; je weniger vollkommen es ist, desto geringer ist die Ungleichheit. Die kleinsten Ungleichheiten bestehen zwischen den Steinen; sie sind reine Materie. Die größten unter den Engeln; sie sind reine Geistwesen.
3. Keine abrupten oder unverhältnismäßigen Ungleichheiten: In der hierarchischen Leiter der Schöpfung gibt es keine abrupten oder unverhältnismäßigen Ungleichheiten. Die Ungleichheiten sind immer graduell und manifestieren sich in kleinen Stufen.
4. Weise Ursachen für die Ungleichheit: Es gibt weise Ursachen, warum Gott alle Dinge mit Ungleichheit erschuf.
5. Ähnlichkeit, nicht Gleichheit: Gleich in ihrer Natur und verschieden in den Akzidentien, sind Menschen zwar ähnlich, aber nicht gleich.
6. Gleiche Natur, gleiche natürliche Rechte: Aus der natürlichen Gleichheit der Menschen ergeben sich die für alle gleichen natürlichen Rechte.
7. Akzidentielle Ungleichheiten, akzidentiell ungleiche Rechte: Aus der Ungleichheit einiger Akzidentien leiten sich akzidentiell ungleiche Rechte ab.
8. Gleichheit, der geringste gemeinsame Nenner: Wenn man den Menschen die größtmögliche Gleichheit unter ihnen aufzwängen will, dann will man nicht ihre Entwicklung, sondern ihren Verfall. Gleichheit kann nur durch die Senkung des Niveaus erzielt werden.
9. Nur soziale Ungleichheit erlaubt sozialen Fortschritt: Je mehr Abstufungen es auf einer Gesellschaftsstufe gibt, desto leichter ist es, voranzukommen und gesellschaftlich aufzusteigen.
10. Die revolutionäre „Lösung“ – der Staat vernichtet das Individuum: Die revolutionäre (liberale oder sozialistische) „Lösung“ für das Problem einer Gesellschaft mit übertriebener und unverhältnismäßiger Ungleichheit ist die Schaffung völliger Gleichheit, d. h. die Beseitigung der Gesellschaftsstufen. Wenn dies geschieht, vernichtet der Staat das Individuum.
11. Die mittelalterliche christliche Zivilisation zeigte Respekt für die von Gott geschaffenen Ungleichheiten: Die mittelalterliche christliche Zivilisation billigte die von Gott gewollten Ungleichheiten und schuf eine hierarchische Gesellschaft mit proportionalen Ungleichheiten, wodurch sie die Mobilität, den Aufstieg und sozialen Fortschritt erleichterte.
12. Die moderne Zivilisation – Gleichheit führt zum Verfall: In dem Maße, wie die moderne Zivilisation die völlige Gleichheit als Ideal propagiert, verwirft sie die Verbesserung des Individuums, weil sie alle gleich macht. Dies erklärt, weshalb die heutige egalitäre Gesellschaft dekadent ist.
Schlussfolgerung: Die Ungleichheit zu hassen bedeutet, Gott zu hassen
Wenn man Gleichheit als den höchsten Wert will, so will man das, was Gott entgegengesetzt ist.
Tatsächlich ordnete Gott das Universum, als er es erschuf, hierarchisch an, damit in seiner proportionalen Ungleichheit sein Bild besser widergespiegelt würde. Die Gottesähnlichkeit im Universum findet ihren besten Ausdruck in einer unbegrenzten Ungleichheit. Wenn man nun die Ungleichheit im Universum hasst, so hasst man damit den Ausdruck der Gottesähnlichkeit. Der Hass gegen die Gottesähnlichkeit aber ist gleichbedeutend mit dem Hass gegen Gott selbst.
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[1] In diesem Abschnitt folgen wir Plinio Corrêa de Oliveira, Revolution und Gegenrevolution, Frankfurt am Main 1996, Erster Teil. Die Revolution, VII. Kapitel: Das Wesen der Revolution, 3. Die Revolution, der Hochmut und die Sinnlichkeit – die metaphysischen Werte der Revolution, A. Hochmut und Egalitarismus (S. 91-103). Außerdem schließen wir uns an mehrere unveröffentlichte Vorträge von Professor Corrêa de Oliveira zu diesem Thema an.
[2] Vgl. Plinio Corrêa de Oliveira, Revolution und Gegenrevolution, I, Kap. VII, 3, A.
[3] Vgl. Plinio Corrêa de Oliveira, Revolution und Gegenrevolution, I, Kap. III, 5.
[4] Vgl. Plinio Corrêa de Oliveira, Revolution und Gegenrevolution, I, Kap. VII, 3, A, S. 91.
[5] Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologica I, q. 50, 4.
[6] Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa Contra Gentiles, II, 45; Summa Theologica, I, q. 47, a. 2.
[7] Auszug aus einem Vortrag von Plinio Corrêa de Oliveira in São Paulo bei einer Konferenz des Dritten Ordens der Karmeliten am 15. November 1958, veröffentlicht in einer Sonderausgabe des Mensageiro do Carmelo von 1959.
[8] Papst Pius XI., Enzyklika Divini Redemptoris vom 19. März 1937, deutsche Übersetzung zitiert nach: Emil Marmy (Hg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau. Dokumente, Freiburg (Schweiz) 1945, S. 146.
[9] U.S. Marshals Service for Students − What Type of Fingerprints do you have? At http://www.justice.gov/marshals/usmsforkids/fingerprint_history.htm.
[10] Leo XIII., Enzyklika Quod Apostolici Muneris vom 28. Dezember 1878, deutsche Übersetzung zitiert nach: Emil Marmy (Hg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau. Dokumente, Freiburg (Schweiz) 1945, S. 123 (Hervorhebungen vom Verfasser).
[11] Vgl. Plinio Corrêa de Oliveira, Revolution und Gegenrevolution, I, Kapitel VII, 3, A.
[12] Auszug aus einem Vortrag von Plinio Corrêa de Oliveira in São Paulo (Brasilien).
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