Erklärung
Als das Buch „Der Adel“ zum ersten Mal dem Publikum präsentiert wurde, erklang in europäischen Ohren noch der Ausdruck „vorrangige Option für die Armen“. Schon während der Zweiten Lateinamerikanischen Bischofskonferenz im kolumbianischen Medellin (1968) in Umlauf gebracht, wurde dieser Ausspruch in der Schluss Erklärung der Dritten Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Puebla, Mexiko (1979) wieder verwendet und später dann auch von Papst Johannes Paul II. im Laufe der ersten Jahre seines Pontifikates gelegentlich benutzt.
Der falsche Gebrauch dieser Ausdrucksweise durch die „Befreiungstheologen“ brachte diese Redewendung in Verruf, und deshalb ist sie heute fast in Vergessenheit geraten. Die „Befreiungstheologie“ hat dem Ausspruch zugunsten des Klassenkampfes eine marxistische Auslegung angeheftet. In den untenstehenden Text, Plinio Correa de Oliveira zeigt das Gegenteil auf, nämlich, daß die Kirche das harmonische, christliche Zusammenleben aller gesellschaftlichen Klassen begünstigt.
Plinio Correa de Oliveira
Vorrangige Option für die Adeligen: Auf den ersten Blick löst dieser Ausdruck vielleicht Überraschung aus, hat man sich doch an die von Johannes Paul II. benutzte Formel der „vorrangigen Option für die Armen“ gewöhnt. In dem vorliegenden Buch geht es jedoch tatsächlich um eine vorrangige Option für die Adeligen.
Dem könnte man natürlich entgegenhalten, daß ein Adeliger ex natura rerum wenigstens über gute Beziehungen, Einfluß und Wohlstand verfügt, sodaß ihm reichlich Mittel zur Verfügung stehen dürften, sich aus einer mißlichen Lage zu befreien, in die er unter Umständen geraten sein mag. Die Vorsehung hat also in seinem Falle bereits eine vorrangige Option für ihn getroffen, denn sie hat ihm all das gegeben, was er braucht, um aus seinen Schwierigkeiten herauszukommen.
Für den Armen aber gilt genau das Gegenteil. Er verfügt weder über Einfluß noch über nützliche Beziehungen und oftmals fehlen ihm die Mittel, die notwendig wären, um dem Übel abzuhelfen. Daher ist eine vorrangige Option, die wenigstens der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse entgegenkommt, durchaus als eine Frage der Gerechtigkeit anzusehen.
Eine vorrangige Option für die Adeligen muß also den Armen gegenüber fast wie Hohn klingen. In Wirklichkeit rechtfertigt sich aber dieser Gegensatz von Adeligen und Armen immer weniger, wenn man bedenkt, daß die Zahl der in Armut lebenden Adeligen immer mehr zunimmt.
Auf diese Tatsache weist übrigens auch Pius XII. in seinen Ansprachen an die Patrizier und den Adel von Rom hin. Nun befindet sich aber der arme Adelige in einer noch schlimmeren Lage als der nichtadelige Arme, weil letzterer allein schon wegen der Beschränktheit seiner Verhältnisse bei seinen Mitmenschen den Sinn für Gerechtigkeit und ihren Großmut wecken und in Bewegung setzen kann und muß.
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…was ist das?
Dagegen hat der Adelige allein schon, weil er adelig ist, Grund genug, nicht um Unterstützung zu bitten. Er wird es vorziehen, seinen Namen und seine Herkunft zu verheimlichen, wenn er schon nicht verhindern kann, daß seine Armut offenbar wird. Früher sprach man in diesem Zusammenhang ausdrucksstark von „verschämter Armut“. Die Befriedigung der Bedürfnisse dieser Art von Adeligen, wie übrigens der Verarmten einer jeden Gesellschaftsschicht, erregte in früheren Zeiten besondere Aufmerksamkeit, und die christliche Nächstenliebe fand tausend Wege, die Not der verschämten Armen zu lindern und ihnen die nötige Hilfe zukommen zu lassen, ohne daß sie sich deshalb in ihrer Würde gekränkt fühlen mußten.
Es ist aber nicht nur der an materiellen Gütern Arme, der eine vorrangige Option verdient; diese steht vielmehr auch denen zu, die auf Grund ihrer Lebensumstände besonders schwere Aufgaben zu erfüllen haben und die daher bei der Erfüllung dieser Pflichten auch größere Verantwortung für die Erbauung der Gesellschaft tragen; andererseits ist das Ärgernis zu berücksichtigen, das die Verletzung dieser Pflichten für die Gesamtheit mit sich bringen kann. In dieser Lage befinden sich heute oft Mitglieder des Adels, wie das vorliegende Werk zeigen wird.
Die vorrangige Option für die Adeligen und die vorrangige Option für die Armen schließen sich keineswegs gegenseitig aus und nach den Worten Johannes Pauls II. stehen sie auch nicht im Kampf gegeneinander: „Ja, die Kirche entscheidet sich vorrangig für die Armen. Es handelt sich aber wohlgemerkt um eine vorrangige, nicht um eine ausschließliche oder gar ausschließende Option, denn die Botschaft von der Erlösung richtet sich an alle.“
Beide Optionen sind Ausdruck des christlichen Gerechtigkeitsgefühls und der Nächstenliebe. Im Dienste desselben Herrn Jesus Christus müssen sie zueinander finden, war dieser doch das Vorbild für Adelige und Arme, wie uns die römischen Päpste mit Nachdruck lehren.
Mögen diese Worte jenen zur Aufklärung dienen, die im Geiste eines derzeit wohl kaum vertretbaren Klassenkampfes glauben, daß die Beziehungen zwischen Adeligen und Armen unbedingt feindseliger Natur sein müssen. Diese irrige Auslegung hat bei vielen dazu geführt, daß der von Johannes Paul II. gebrauchte Ausdruck vorrangige Option im Sinne einer ausschließlichen Bevorzugung verstanden wird. Eine derart leidenschaftliche, einseitige Auslegung entbehrt jeder Grundlage. Man kann gleichzeitig und mit unterschiedlicher Intensität verschiedenen Dingen den Vorzug geben. Selbstverständlich muß die Bevorzugung des einen nicht notwendigerweise den Ausschluß des andern bedeuten.
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