Papst Johannes Paul II.: Herz-Jesu-Andacht auf dem Flughafen von Elblag, 6. Juni 1999 (Auszüge)
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2. »Herz Jesu, Quelle des Lebens und der Heiligkeit, erbarme dich unser.«
So rufen wir es in der Litanei an. Alles, was Gott uns von sich selbst und seiner Liebe mitteilen wollte, hat er in das Herz Jesu gelegt und durch dieses Herz ausgedrückt. Wir stehen vor einem unergründlichen Geheimnis. Durch das Herz Jesu lesen wir den ewigen Plan Gottes für das Heil der Welt: Es ist ein Plan der Liebe. Die Litanei, die wir so wunderschön gesungen haben, enthält diese ganze Wahrheit.
Wir sind heute hierhergekommen, um die Liebe des Herrn Jesus und seine Güte, die Erbarmen mit jedem Menschen hat, zu betrachten; um sein in Liebe zum Vater entflammtes Herz – in der Fülle des Heiligen Geistes – zu betrachten. Christus, der uns liebt, zeigt uns sein Herz als Quelle des Lebens und der Heiligkeit, als Quell unserer Erlösung. Um diese Anrufung noch tiefer zu verstehen, müssen wir vielleicht zur Begegnung Jesu mit der Samariterin zurückgehen, in der kleinen Stadt Sychar beim Brunnen, der sich seit der Zeit des Erzvaters Jakob dort befand. Sie war gekommen, um dort Wasser zu schöpfen. Da sagte Jesus zu ihr: »Gib mir zu trinken!«, darauf wandte sie sich an ihn: »Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um Wasser bitten?« Der Evangelist erklärt, daß die Juden damals nicht mit den Samaritern verkehrten. Jesus gab ihr zur Antwort: »Wenn du wüßtest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben […] Das Wasser, das ich ihm gebe, wird in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt« (vgl. Joh 4,1–14). Es sind geheimnisvolle Worte.
Jesus ist die Quelle; von ihm nimmt das göttliche Leben im Menschen seinen Ausgang. Man muß sich ihm nur nähern und in ihm bleiben, um dieses Leben zu haben. Was aber ist dieses Leben, wenn nicht der Beginn der Heiligkeit des Menschen? Jener Heiligkeit, die in Gott ist und die der Mensch mit Hilfe der Gnade erreichen kann? Alle möchten wir aus dem göttlichen Herzen trinken, das die Quelle des Lebens und der Heiligkeit ist.
3. »Wohl denen, die das Recht bewahren und zu jeder Zeit tun, was gerecht ist« (Ps 106,3).
Brüder und Schwestern, die Meditation über die Liebe Gottes, die sich im Herzen seines Sohnes offenbart hat, fordert vom Menschen eine konsequente Antwort. Wir sind nicht nur dazu berufen, das Geheimnis der Liebe Christi zu betrachten, sondern auch daran teilzunehmen. Christus sagt: »Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten« (Joh 14,15). Auf diese Weise richtet er an uns einen großen Aufruf und stellt uns gleichzeitig eine Bedingung: Wenn du mich lieben willst, dann halte meine Gebote, achte das heilige Gesetz Gottes, gehe die Wege, die Gott dir gezeigt hat und die auch ich dir mit dem Vorbild meines Lebens gezeigt habe.
Gott will, daß wir die Gebote halten, das heißt das Gesetz Gottes, das dem Volk Israel durch Mose auf dem Berg Sinai gegeben wurde. Es wurde allen Menschen gegeben. Wir kennen diese Gebote. Viele von euch wiederholen sie jeden Tag im Gebet; das ist ein sehr schöner frommer Brauch. Wiederholen wir sie so, wie sie im Buch Exodus stehen, um unsere Erinnerung zu bestärken und zu erneuern.
»Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat; aus dem Sklavenhaus.
Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen.
Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!
Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.
Du sollst nicht morden.
Du sollst nicht die Ehe brechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen.
Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen« (vgl. Ex 20,2–17).
Dies ist die Grundlage der Moral, die der Schöpfer dem Menschen gegeben hat: der Dekalog, die zehn Gebote, die Gott mit großer Bestimmtheit auf dem Sinai aussprach und die Christus während der Bergpredigt im Zusammenhang mit den acht Seligpreisungen bestätigte. Der Schöpfer, der zugleich oberster Gesetzgeber ist, hat die gesamte Ordnung der Wahrheit ins Herz des Menschen eingeschrieben. Diese Ordnung bedingt das Gute und die moralische Ordnung und ist die Grundlage der Würde des nach dem Abbild Gottes geschaffenen Menschen. Die Gebote wurden für das Wohl des Menschen, für sein persönliches, familiäres und gesellschaftliches Wohl gegeben. Für den Menschen sind sie tatsächlich der Weg. Die materielle Ordnung allein reicht nicht aus. Sie muß von der übernatürlichen vervollständigt und bereichert werden. Dadurch gewinnt das Leben einen neuen Sinn, und der Mensch ändert sich zum Guten hin. Das Leben braucht nämlich göttliche, übernatürliche Kräfte und Werte; nur dann erreicht es seinen vollen Glanz.
Christus bestätigte dieses Gesetz des Alten Bundes. In der Bergpredigt sprach er deutlich zu seinen Hörern: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen« (Mt 5,17). Christus ist gekommen, das Gesetz zu erfüllen – in erster Linie, um es in seinem Inhalt und seiner Bedeutung zu ergänzen und um auf diese Weise dessen ganzen Sinn und seine ganze Tiefe darzustellen: Das Gesetz ist vollkommen, wenn es durchdrungen ist von Gottes- und Nächstenliebe. Die Liebe ist das, was über die sittliche Vollkommenheit des Menschen und über seine Ähnlichkeit mit Gott entscheidet. »Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird auch von meinem Vater geliebt werden, und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren« (Joh 14,21). Die heutige Liturgie, die dem Heiligsten Herzen Jesu gewidmet ist, erinnert uns an diese Liebe Gottes, nach der sich der Mensch so sehr sehnt. Sie macht deutlich, daß die Einhaltung der Gebote Gottes im täglichen Leben eine konkrete Antwort auf diese Liebe ist. Gott wollte, daß die Gebote im Gedächtnis nicht verblassen, sondern für immer in das Gewissen der Menschen eingeprägt bleiben, damit der Mensch, der sie kennt und sich an sie hält, »das ewige Leben hat«.
4. »Wohl denen, die tun, was gerecht ist.«
So spricht der Psalmist von den Menschen, die den Weg der Gebote gehen und sie bis ans Ende einhalten (vgl. Ps 119,32–33). Die Befolgung des göttlichen Gesetzes ist in der Tat die Grundlage zur Erlangung der Gabe des ewigen Lebens, das heißt des Glücks ohne Ende. Auf die Frage des jungen Reichen: »Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?«, antwortet Jesus: »Wenn du […] das Leben erlangen willst, halte die Gebote!« (Mt 19,16–17). Dieser Aufruf Christi ist in der heutigen Wirklichkeit besonders aktuell, denn viele leben heutzutage so, als gäbe es Gott nicht. Die Versuchung, die Welt und das eigene Leben ohne Gott oder gegen ihn, ohne seine Gebote und ohne das Evangelium, einzurichten, besteht tatsächlich, und sie bedroht auch uns. Das Leben und die Welt werden sich letztlich gegen den Menschen wenden, wenn sie ohne Gott aufgebaut sind. In diesem, dem zu Ende gehenden 20. Jahrhundert, haben wir zahlreiche Beweise dafür erlebt. Die göttlichen Gebote mißachten und den von Gott gezeichneten Weg verlassen bedeutet, der Sklaverei der Sünde zu verfallen; und »der Lohn der Sünde ist der Tod« (Röm 6,23).
Wir stehen vor der Realität der Sünde: Sie ist eine Beleidigung Gottes, ist Ungehorsam gegenüber Gott, seinem Gesetz und der sittlichen Norm, die Gott dem Menschen gab, indem er sie in sein Herz legte und durch die Offenbarung bestätigte und vervollständigte. Die Sünde widersetzt sich der Liebe Gottes zu uns und wendet unsere Herzen von ihm ab. Die Sünde ist »die bis zur Verachtung gesteigerte Selbstliebe«, wie der hl. Augustinus sagt (vgl. De Civitate Dei, 14, 28; in: Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 16, Kempten/ München 1914, S. 357 f.). Die Sünde ist in all ihren mannigfaltigen Dimensionen ein großes Übel – angefangen beim Sündenfall, über alle persönlichen Sünden jedes Menschen und die Sünden der Gesellschaft, bis zu den Sünden, die auf der Geschichte der ganzen Menschheit lasten.
Wir sollen uns ständig dieses großen Übels bewußt sein und stets ein feines Gespür und eine klare Erkenntnis für den in der Sünde enthaltenen Keim des Todes erwerben. Damit ist das gemeint, was wir normalerweise als Sinn für die Sünde bezeichnen. Er hat seinen Ursprung im sittlichen Gewissen des Menschen, und er ist mit der Erkenntnis Gottes und mit dem Sinn für die Verbundenheit mit dem Schöpfer, Herr und Vater, verknüpft. Je tiefer das durch das sakramentale Leben des Menschen und durch aufrichtiges Gebet gestärkte Bewußtsein der Verbindung mit Gott ist, desto ausgeprägter ist der Sinn für die Sünde. Die Wirklichkeit Gottes enthüllt und erhellt das Geheimnis des Menschen. Laßt uns alles tun, um unser Gewissen dafür empfindsam zu machen und es vor Entartung oder Unempfindlichkeit zu bewahren.
Schauen wir nun, welche großen Aufgaben Gott uns stellt. Wir müssen in uns einen wahren Menschen nach dem Abbild und Gleichnis Gottes formen: einen Menschen, der das Gesetz Gottes liebt und danach leben will. Der Psalmist ruft: »Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen! Wasch meine Schuld von mir ab, und mach mich rein von meiner Sünde!« (Ps 51,3–4). Ist das für uns etwa nicht ein ergreifendes Beispiel eines Mannes, der sich reuig vor Gott stellt? Er wünscht die »metanoia« seines Herzens, um zu einem neuen, anderen, von der Kraft Gottes verwandelten Geschöpf zu werden.
Vor unserem geistigen Auge steht der hl. Adalbert. Wir spüren hier seine Gegenwart, denn in dieser Gegend hat er sein Leben für Christus hingegeben. Seit tausend Jahren sagt er uns durch das Zeugnis des Martyriums, daß man Heiligkeit durch Opfer erreicht, daß es hier absolut keinen Kompromiß geben kann, daß man bis zum Ende treu bleiben und den Mut haben muß, das Abbild Gottes in der eigenen Seele bis zum äußersten zu verteidigen. Adalberts Märtyrertod ermahnt die Menschen, daß sie – dem Bösen und der Sünde gestorben – in ihrem Innern einen neuen Menschen entstehen lassen, einen Menschen Gottes, der die Gebote des Herrn hält.
5. Liebe Brüder und Schwestern! Betrachten wir das Heiligste Herz Jesu, das die Quelle des Lebens ist, weil durch es der Sieg über den Tod errungen wurde. Es ist auch die Quelle der Heiligkeit, weil darin die Sünde überwunden wird, die der Feind der Heiligkeit, der Feind der geistlichen Entfaltung des Menschen ist. Im Herzen des Herrn Jesus nimmt die Heiligkeit eines jeden von uns ihren Anfang. Laßt uns von diesem Herzen die Liebe zu Gott und das Verständnis des Geheimnisses der Sünde – »mysterium iniquitatis« – lernen.
Laßt uns unsere eigenen Sünden und die unserer Nächsten durch Akte der Sühne vor dem Heiligen Herzen wiedergutmachen. Laßt uns für die Ablehnung der Güte und Liebe Gottes Abbitte leisten.
Laßt uns jeden Tag zu dieser Quelle kommen, aus der lebendiges Wasser quillt. Wir wollen mit der Samariterin bitten: »Gib uns dieses Wasser«, weil es das ewige Leben schenkt.
Herz Jesu, du Feuerherd der Liebe,
Herz Jesu, du Quelle des Lebens und der Heiligkeit,
Herz Jesu, du Sühne für unsere Sünden,
erbarme dich unser. Amen.«