von Michael Rieger
Die Kritik an den fatalen Irrungen und Wirrungen des Zeitgeistes und seinen Anhängern – an dieser Stelle sei auf Haller, Satan und der Geist der Zeit hingewiesen – ist nicht nur berechtigt, sondern auch zwingend notwendig. Und doch darf die Schärfe der Kritik den Blick nicht trüben oder gar verstellen. Es geht nicht darum, nur genau auf das zu sehen, was als gründlich verfehlt abgelehnt wird, sondern darum, den Blick darüber hinaus freizumachen und freizugeben auf die wahre Welt hinter den schiefen Kulissen. Wir dürfen nicht bei der Negation stehenbleiben, beim „Geist, der stets verneint“, stattdessen wollen wir die Welt wiedergewinnen, zurückgewinnen, das zurückerobern, was die Welt ist und was sie meint, anstatt mitzutun beim gedankenlosen, seelenlosen, heruntergekommenen Umgang mit ihr.
Mag die Zerrüttung und Zerstörung durch den Zeitgeist auch noch so groß sein – „der Christ allerdings ist davon überzeugt“, schreibt Josef Pieper, „dass keine noch so umfassende Aktion des Niederreißens (…) jemals die Substanz der Schöpfung anzutasten vermag“. Davon ist erst einmal auszugehen und das gibt Gewissheit, wenn danach gefragt wird, wie dem Zeitgeist zu begegnen ist, mit welcher Haltung man ihm entgegentritt und worauf man sich stützen kann, um sich ihm zu entziehen. In diesem Vertrauen wurzelt auch eine in der Ostkirche verbreitete Form des spirituellen Lebens, der Hesychasmus (von grch. hesychia: Ruhe). Durch die betende Versenkung in die Ruhe des Geistes, so der große Mystik-Forscher Gerhard Wehr, streben die Hesychasten eine Reinigung und eine Hinwendung zu Gott an, eine „bisher ungeahnte, selbst den Tod einschließende Positivität“, die auch als Herzensruhe beschrieben werden kann. Diese Positivität, diese absolute Zustimmung zur Schöpfung weist weit über den Horizont der Kritik an den Umständen hinaus.
Wie klein wirkt demgegenüber die Zeitkrankheit des Hochmuts, wie klein wirken die elende Selbstherrlichkeit, der eitle Stolz, die superbia, die uns jeden Tag in die Augen stechen! Hat die Hoffart „einmal dein Herz eingenommen“, schreibt der Heilige Bernhard von Clairvaux (1090-1153), „bist du nicht mehr imstande, dich zu sehen, wahrzunehmen, wie du wirklich bist, sondern du glaubst so zu sein, wie du dich gerne siehst, oder hoffst, es zu werden“. Im Gegensatz dazu steht die christliche Demut, die nicht als Unterwürfigkeit zu verstehen ist, sondern als Einfügen in das Ganze, als Selbsterkenntnis, die die Ichbezogenheit für das viel Größere überwindet. Auf dem „Weg der Demut“ kann man, so weiter Bernhard von Clairvaux, „wieder zur Erkenntnis der Wahrheit zurückkehren“. Nur wer beachtet, was er ist und sich selbst nicht überhöht, kann sich wieder „in der Wahrheit“ finden. Und anstatt „mit unerhörter Anmaßung“ seinen „Mitbürgern ein Ärgernis“ zu sein, hilft es, einmal zur Erde zu blicken, „denn du bist Erde und wirst zur Erde wiederkehren“.
Eben weil diese tausend Jahre alten Überlegungen in unserer Zeit, „in einer ganz säkularisierten Welt“ (Hubert Fichte) so fern und fremd erscheinen und den üblichen Denk- und Verhaltensmustern widersprechen, muss an sie erinnert, an sie angeknüpft werden.
Mit Blick auf Origines (185-254) schreibt Gerhard Wehr: „Der Mensch bedarf der Schrift, um sich selbst zu verstehen.“ Von dieser grandiosen Erkenntnis ist die christliche Philosophie des Mittelalters ganz und gar durchdrungen. Nicht nur die Mystiker, wie Bernhard von Clairvaux, haben sich der intensiven Schriftauslegung und Schriftausdeutung als subtiler Erforschung und Ergründung der menschlichen Seele verschrieben, das gilt auch für die ihnen nachfolgenden Scholastiker, namentlich für Thomas von Aquin (1225-1274). Es wäre ein Missverständnis, die Mystik gegen die Scholastik „auszuspielen“, es hilft uns aber weiter, die beiden zusammenzusehen: „Die Übergänge von der Mystik des ‚benediktinischen‘ in die des ‚scholastischen‘ Zeitalters sind so feiner Art, daß eine Abgrenzung noch weniger als sonst im fließenden Leben mit des Messers Schneide zu vollziehen ist“, schreibt Otto Karrer (Der mystische Strom. Von Paulus bis Thomas von Aquin, S. 365-366). „Vom 12. Jahrhundert an tritt das Streben nach erkenntnismäßiger Begründung des Glaubensinhalts immer deutlicher hervor und führt über Hugo und Richard von St. Victor mit schnellem Laufe in die verstandesklare Luft der Hochscholastik, wo Thomas von Aquin den Gipfel einnimmt (…). Man erkennt es an: in Wirklichkeit waren die großen Scholastiker tief religiöse Naturen, selbst Mystiker im eigentlichen Sinn (Bonaventura, Thomas), wie auch die großen Mystiker des Mittelalters Scholastiker waren. Mit den Stichworten ‚Scholastik‘ und ‚Mystik‘ sind eben nur die Pole angedeutet, zwischen denen das Leben flutet (…).“
In beiden Strömungen lebt und webt, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten, die Überlieferung wie die „rationale Argumentation“, in beiden lebt und webt „die Verknüpfung von Glauben und Vernunft“, ein Einklang, eine Synthese, die seit ihrem Auseinanderbrechen „bis auf den heutigen Tag noch nicht wieder gelungen“ ist (Josef Pieper), um die wir uns aber doch bemühen müssen, wie auch Joseph Kardinal Ratzinger schon 1985, lange bevor er Papst wurde, betonte (vgl. Zur Lage von Glaube und Theologie heute). Dieses Zusammenspiel ermöglicht einen ganz anderen Blick auf die Welt und den Menschen als uns die heutige „Normalität“ der omnipräsenten Atomisierung und Mechanisierung suggerieren, ja vorgaukeln will.
Es ist der „Mystiker“ Bernhard von Clairvaux, der davor warnt, das „Steuer der Vernunft“ aus der Hand zu geben und sich seinen schlechten Gewohnheiten, seinen Begierden und Schwächen zu überlassen: gerade aus der „Vereinigung des [göttlichen] Wortes mit der Vernunft entsteht die Demut“. Und es ist der rationale „Scholastiker“ Thomas von Aquin, der – weit davon entfernt, den Glauben beweisen zu wollen, „denn dadurch fiele das Verdienst des Glaubens dahin“ – die humilitas ebenfalls als „wichtigste Tugend“ hervorhebt: sie räumt den Hochmut fort und schafft Raum für das Einströmen der göttlichen Gnade (vgl. Summa theologica II.II, quaestio 161).
Die Wiedergewinnung der Demut, der Bescheidenheit, der Dankbarkeit wäre somit ein erstes Ergebnis, ein erster Schritt in die richtige Richtung, um sich dem Zeitgeist zu entziehen. Darin scheint aber schon etwas anderes, schon viel mehr auf. Mit dem Vernunftbegriff Bernhards und Thomas’ ist es möglich, die Reduzierung der Vernunft auf die reine Zweckrationalität hinter sich zu lassen. Plinio Corrêa de Oliveira sprach in seinem Hauptwerk Revolution und Gegenrevolution (1959) von einer „getrübten“ bzw. „verkümmerten Vernunft“. Diese Kritik ist auch ein zentrales Anliegen von Benedikt XVI. gewesen, der als ausgesprochener Verehrer des Heiligen Thomas von Aquin auch Bernhard von Clairvaux zu würdigen wusste (vgl. die Generalaudienz vom 21. Oktober 2009). Benedikt XVI. hat betont (vgl. Ansprache beim Angelusgebet vom 28. Januar 2007), dass die „Beschränkung der Vernunft“ auf den Zweckrationalismus eine „klar erkennbare Schizophrenie“ hervorgebracht habe, „in der Rationalismus und Materialismus, Hypertechnologie und zügellose Triebhaftigkeit zusammenleben. Deshalb ist es dringend notwendig, in einer neuen Art und Weise die Vernünftigkeit des Menschen wiederzuentdecken“, die offen ist für den göttlichen Logos und für Jesus Christus. Die Geschichte hat längst bewiesen, dass eine Vernunft ohne Glauben nur das perfektioniert, was auch ein Glaube ohne Vernunft so gut vermag: Gleichschaltung, Unterdrückung, Zerstörung, Tyrannei. Eine derart „eingeschläferte Vernunft“ (Bernhard von Clairvaux) lässt sich wie ein alter Hund sehr leicht fangen und fesseln durch die bequeme „Gewohnheit“.
So ruft jener Mystiker durch die Jahrhunderte hindurch noch unser Zeitalter der eingeschläferten Vernunft zur Ordnung.
Literatur
Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke II. Innsbruck 1992.
Peter Dinzelbacher. Bernhard von Clairvaux. Leben und Werk des berühmten Zisterziensers. Darmstadt 1998.
Josef Pieper: Scholastik. Gestalten und Probleme der mittelalterlichen Philosophie. München 1981.
Josef Pieper: Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes. Kevelaer 2012.
Gerhard Wehr: Europäische Mystik. Eine Einführung. Wiesbaden 2005.