Während Wladimir Putins Zeit im Kreml wurden in der Russischen Föderation über 100 Statuen von Stalin errichtet. Gleichzeitig, so berichtet die BBC, wurden viele der über 700 Gedenktafeln für Stalins Opfer entfernt. Im vergangenen Mai wurde eine Skulptur zu Ehren Stalins in der U-Bahn-Station Taganskaja in Moskau aufgestellt. Sie ist eine Nachbildung einer Statue, die dort 1950 installiert und 1961 entfernt wurde.
Die Reaktionen auf die Skulptur sind gemischt. U-Bahn-Fahrgäste legten Hunderte roter Nelken zu Füßen der Stalin-Figur nieder. Manche sehen darin eine Nostalgie nach den „glorreichen Tagen“ des Kommunismus. Andere interpretieren die Blumen als Symbol für das Blut, das Stalin vergossen hat.
Die Irish Star veröffentlichte den Schmerz eines Stalin-Gegners.
„Für die derzeitige Regierung ist das Wichtigste der Staat. Der Staat ist heilig, der Staat steht über allem, der Staat ist unfehlbar“, erklärte Jan Ratschinski, ein Menschenrechtsaktivist, der sich im Moskauer Büro von Memorial – einer Organisation, die den Opfern Stalins gewidmet ist – der Aufarbeitung von Stalins Verbrechen widmet. „Deshalb nimmt die Kritik an Stalin ständig ab.“
Entstalinisierung und Wiederherstellung
In der Tat bestätigt Stalins Leben Ratschinskis Einschätzung. Die Schrecken der Gulags, das Gefängnis Lubjanka, die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft, die regelmäßigen Säuberungen unter seinen Stellvertretern und Generälen sowie Stalins bewusste Aufgabe der Bevölkerung von Stalingrad sind nur der Anfang. Die staatlich verursachte „Große Hungersnot von 1932–33“ forderte allein in der Ukraine schätzungsweise vier Millionen Todesopfer.
Die Massaker während Stalins Herrschaft waren so gravierend, dass selbst die Kommunisten sein Erbe nicht fortführen konnten. Anfang der 1960er Jahre leitete Nikita Chruschtschow ein Programm namens „Entstalinisierung“ ein, um das Land von Stalins Einfluss zu befreien und seine übermäßigen Verbrechen anzuprangern. Dieses Vorhaben verlor in der Breschnew-Ära an Schwung, wurde aber von Gorbatschow wieder aufgenommen. Als die Sowjetunion Ende 1991 zerfiel, war Stalin für die meisten nur noch eine ferne Erinnerung – hauptsächlich für die immer kleiner werdende ältere Generation.
Dennoch rehabilitiert Putin Stalin nun zu einer national verehrten Figur. Das passt zu den antiwestlichen Ideologien von Vordenkern wie Alexander Dugin, die Stalin aus nationalistischen Motiven heraus positiv sehen.
Wahrheit wird zur Ordnungswidrigkeit
Vielleicht erlaubt das Verblassen der Erinnerungen eine historische Umdeutung, die nationalistische und antiwestliche Strömungen befeuert. Wer dieser Deutung widerspricht, kann strafrechtlich verfolgt werden.
So wurde laut Associated Press ein russischer Bürger zu einer Geldstrafe von 300.000 Rubel verurteilt, weil er in den sozialen Medien gepostet hatte, „dass die Kommunisten gemeinsam mit Deutschland Polen überfallen und so den Zweiten Weltkrieg ausgelöst haben.“ Er wurde auf Grundlage eines Gesetzes von 2014 wegen „Rehabilitierung des Nationalsozialismus“ verurteilt. Die Rehabilitierung Stalins hingegen bleibt offenbar straflos.
Das Bündnis der Diktatoren
Dabei war die Aussage des Mannes zweifellos korrekt. Der historische Befund ist eindeutig. Am 22. August 1939 reiste Adolf Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop nach Moskau, um sich mit seinem sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw Molotow zu treffen. In den darauffolgenden drei Tagen wurde ein Abkommen ausgehandelt: Die Sowjetunion würde bei einem deutschen Angriff auf Polen nicht eingreifen. Im Gegenzug würde Deutschland eine sowjetische Besetzung Ostpolens sowie der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen akzeptieren. In der darauffolgenden Woche marschierte Deutschland in Polen ein und leitete damit die europäische Phase des Zweiten Weltkriegs ein.
Dieser berüchtigte Pakt hielt der Bewährungsprobe der Zeit nicht stand. Am 22. Juni 1941 überfiel Hitler die Sowjetunion, und Stalin wurde zum Verbündeten der großen „kapitalistischen“ Mächte jener Zeit. Nur mit massiver militärischer Unterstützung durch die USA – eine Tatsache, die in den neuen russischen Geschichtsbüchern geleugnet wird – gelang es der Sowjetunion, zu überleben. Doch unmittelbar nach dem Krieg wandte sich Stalin erneut gegen den Westen.
Geschichte wird umgeschrieben
Die Rückkehr von Stalin-Statuen in ganz Russland ist ein unheilvolles Zeichen. Wenn ein allgemein anerkannter Diktator, der für den Tod von Millionen verantwortlich ist, glorifiziert wird, besteht die Gefahr, dass solche Taten wieder geschehen. Wer aus den Fehlern der Geschichte nicht lernt, ist oft dazu verdammt, sie zu wiederholen.
Kein Wunder also, dass die Ukrainer so entschlossen für ihre Freiheit kämpfen. Sie erinnern sich – im Gegensatz zu vielen anderen – noch an die inszenierten Hungersnöte, die Gulags und die Zerschlagung der katholischen Kirche in ihrem Land. Und sie sehen heute, wie in den besetzten Gebieten erneut Stalin-Statuen errichtet werden.
Für jene Ukrainer, die ihre Geschichte kennen und unter Stalins Herrschaft gelitten haben, ist dieser Kampf ein Kampf auf Leben und Tod – für ihr Land und ihren Glauben.
Quelle: tfp.org
Foto: An unknown police officer in Tsar-Russia, 110 years ago. CC BY-SA 4.0, wikimedia.commons.